Micha Winkler und die "Camera Obscura"

Das Thema von Micha Winklers Fotografien war in den vergangenen Jahren immer das pralle Leben der Menschen. So zeigte er im Jahr 1997 Musiker beim Spielen und ihre Zuhörer. Da wurde Jazzmusik durch spezielle Belichtungstechniken selbst auf dem Papier lebendig oder sprangen wilde Pogotänzer dem Betrachter entgegen. Seit drei Jahren nun experimentiert Micha Winkler mit einer neuen und zugleich alten Technik, der Camera Obscura oder Lochkamera. Die Realität erscheint auf diesen Bildern verändert, da die Aufnahmen sehr lange Belichtungszeiten erfordern. Alles, was sich hektisch, schnell, zielstrebig bewegt, wird auf den Fotos so zum Schemen, zum Nebelstreif. Mit den spezifischen Abbildungseigenschaften der Kamera erschafft Micha Winkler Bilder, die ungewöhnliche Sichtweisen und Schärfeverteilungen zeigen. Diese Perspektiven vereinen Aspekte der modernen Medien, wie der Digitalfotografie, und erinnern zugleich an klassische Malerei durch ihre anmutige Weichheit.

Der Wechsel von unscharfen, zerfließenden Konturen und exakter Schärfe in einem Bild schafft eine besondere Faszination, wie sie nur den Lochkamerafotos eigen ist. Es tritt eine Realität zutage, die wir in der Geschäftigkeit des Alltags sonst nicht wahrnehmen können. In dieser Wirklichkeit ist nur zu sehen, was Bestand hat: die Gebäude der Stadt, Bäume, der Himmel. Hektische Straßen sehen aus wie fast menschenleere Orte. Die Lochkamera lässt eine Illusion entstehen und knüpft an Träume an, die so mancher hegen mag: zum Beispiel die sonst so überfüllte Stadt einmal ganz für sich allein zu haben.

Dennoch bleibt Micha Winkler seinem Thema treu: das Leben ist nur verlangsamt: Autos, die sich im Stau durch die Straßen quälen, wachsen zu nie gesehener Länge.

Menschen, die sich Zeit nehmen, heben sich scharf von ihren hektischen Mitmenschen ab. All das zielgerichtete eilige Treiben um sie herum verschwimmt zu unbestimmtem Dunst.

Micha Winklers Fotos zeigen deshalb zwar ungewöhnliche Perspektiven, aber zugleich vertraute Abbildungen unserer Wahrnehmung, wie wir sie manchmal gefühlsmäßig oder im Traum erleben. Goethe lässt seinen Faust nach dem einen Augenblick im Leben suchen, zu dem er sagen kann "Verweile doch, Du bist so schön". Wer auf der Suche nach solchen Eindrücken ist, ohne dafür seine Seele zu riskieren, kann bei ihm fündig werden.



Freie Journalistin Susanne Harmsen